Lebanon: Revolution, Refugees, Bankruptcy and now Corona - VERANSTALTUNGSBERICHT

Nach dem überwältigenden Interesse an unserem ersten Online-Event zu Israel und Palästina haben wir uns in der zweiten Veranstaltung unserer neuen Reihe am 15. April 2020 um 19:30 dieses Mal näher mit dem Libanon auseinandergesetzt. Moderiert von unserem Mitbegründer und Reiseleiter Christoph Dinkelaker nutzten wir auch hier wieder Liveschalten zu Experten und Gesprächspartner*innen vor Ort kombiniert mit aktuellem Bild- und Videomaterial aus der Region, um Corona und den aktuellen Reisebeschränkungen zum Trotz die gegenwärtige Situation im Zedernstaat nicht aus dem Blick zu verlieren und die Geschehnisse dort etwas besser zu verstehen.

Nach der Begrüßung und einer kurzen Einführung in Politik, Gesellschaft und jüngere Geschichte des Libanon durch Christoph sowie einem Einspieler zum neuen Alltag in Beirut in Zeiten von Covid-19 lieferte die Politikwissenschaftlerin Ginan Osman, die selbst aktiver Teil der im vergangenen Jahr ausgebrochenen Proteste war, uns einen Überblick über die Gründe für sowie den Ablauf der Rebellion. Während die Einführung einer Whatsapp-Steuer sowie die unzureichende Reaktion der Regierung auf die extremen Waldbrände im Land einen wesentlichen Teil zum Ausbrauch der Proteste beitrugen, liegen die Ursachen jedoch viel tiefer. Einer der zentralen Faktoren hierbei ist vor allem die wahrgenommene Unfähigkeit der Regierung, angesichts von extrem hoher (Jugend-)Arbeitslosigkeit, steigenden Armutsraten, Umweltverschmutzung und horrenden Preisen für Bildung, Transport und Gesundheitsversorgung eine angemessene Versorgung ihrer Bürger mit öffentlichen Gütern zu garantieren.

Die Gründe für diese Problematik wiederum sind in weiten Teilen identisch mit den Auslösern des Staatsbankrotts, wie Nizar Hassan, politischer Aktivist und bekannter Podcaster, in seinem Beitrag näher erläuterte. Ein wesentliches Problem liegt dabei in der Verfasstheit des libanesischen Wirtschaftssystems, welches vor allem von Rentenerträgen und damit ausländischem Kapital und Importen abhängig ist, während die eigene Produktivität sehr gering ist und durch niedrige Zölle und hohe Zinsen für Kapitalanlagen auf diesem niedrigen Niveau gehalten wird. Über die letzten Jahrzehnte führte diese Politik zu einer extrem hohen Staatsverschuldung und die Umverteilung von öffentlichen Geldern in die Taschen korrupter politischer Eliten, welche oftmals Anteilseigner der Banken oder privatisierter Dienstleistungsunternehmen etwa im Gesundheits- oder Transportsektor sind und so von der Aufrechterhaltung dieser politischen Linie profitieren, während das Budget des Staates für die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen immer weiter schrumpft und Armut sowie Vermögens- und Einkommensungleichheit zunehmen. Der Staat als solcher ist aufgrund der Interessenkonflikte der Eliten sowie der Uneinigkeit zwischen den Akteuren, welche oftmals entlang sektiererischer Grenzen verläuft, zu schwach, um dem entgegenzuwirken.

Dort setzen die Kernforderungen der Proteste an, welche – wie sowohl Ginan als auch Hassan hervorgehoben haben – in dieser Form absolut beispiellos in der Geschichte des Libanon sind. Diese entstanden als Graswurzelbewegung und verbinden weite Teile der Gesellschaft und verschiedenste politische Strömungen in ihren Grundforderungen miteinander. Sektiererische Konflikte spielen hier keine Rolle, auch feministische und LGBTQ-Gruppen zeigen ebenso wie Flüchtlinge und junge Menschen eine hohe Präsenz. Selbstorganisierte öffentliche Vorlesungen zu verschiedensten Themen sorgten zudem dafür, dass die Gesellschaft nun weit besser über die Hintergründe der Krise informiert ist als zuvor, was einen wesentlichen Beitrag zum Fortbestehen der Bewegung leistet, was – wie Hassan betonte – vor allem vor dem Hintergrund wichtig ist, dass noch weit mehr Druck und Arbeit vonnöten sein werden, um das politische und wirtschaftliche System vor Ort nachhaltig zu verändern.  

Der zweite Teil der Veranstaltung widmete sich mit den Geflüchteten im Libanon einer Gruppe, deren sowieso schon sehr prekäre Situation durch die aktuellen Krisen im Land noch weiter verschärft wird. Dr. Feras Alghadban, syrischer Arzt und Leiter der NGO Endless Medical Advantage Libanon, berichtete uns von seiner Arbeit im Einsatz für die Menschen in den Flüchtlingscamps in der Bekaa-Ebene. Das Leben dort ist geprägt von Hunger und Armut: Die vom UNHCR zur Verfügung gestellten Gelder sind angesichts der aktuellen Problemlagen und steigender Preise im Libanon mehr als unzureichend und seit April 2019 ist es Geflüchteten durch ein neues Gesetz fast unmöglich, im Libanon zu arbeiten. Zudem sind Teile der libanesischen Bevölkerung ihren Gästen gegenüber zunehmend feindlich gesinnt.

Die Corona-Krise verschlimmert diese Situation noch weiter: Die Geflüchteten dürfen die Camps nicht mehr verlassen, NGOs das Betreten dieser verboten. Video-Konsultationen sind so oft die einzige Möglichkeit, überhaupt noch eine medizinische Versorgung der Menschen dort zu ermöglichen. Vor einigen Tagen konnte das Team von Dr. Alghadban eine Ausnahmegenehmigung erwirken, doch angesichts der hochgradig prekären Situation ist dies nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wenn Ihr die Arbeit von Endless Medical Advantage in dieser schweren Zeit unterstützen möchtet, findet ihr unter dem folgenden Link mehr Informationen zur Arbeit der Organisation sowie die Möglichkeit zu spenden: https://www.endlessmedicaladvantage.com/

Wir bedanken uns bei allen Gesprächspartner*innen für die wertvollen Einblicke, bei unserem Partner Dis:Orient e.V. und selbstverständlich auch bei Euch für Euer großes Interesse sowie die vielen interessanten Fragen, die wir während des Livestreams, aber auch im Nachgang noch erhalten haben.

Falls Ihr das Event verpasst haben solltet oder Euch einen der Inputs noch einmal ansehen möchtet, findet ihr einen Mitschnitt der Veranstaltung auch hier auf unserem Youtube-Kanal: https://www.youtube.com/watch?v=pBYoDDT3T-Q&list=PLUNmQHtYTPqObVRwA91P-uqVikDPWwGJc&pbjreload=10

In den kommenden Wochen erwarten euch weitere Online-Events, so etwa am 29. April um 19:30 zu Kurdistan. Detailliertere Infos hierzu und die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr bald hier auf der Website und auf unseren Social-Media-Kanälen. Wer neben unseren Abendveranstaltungen Lust hat auf ein noch interaktiveres Format in kleiner Gruppengröße, der sei hiermit herzlich zu unserer zweitägigen virtuellen Studienreise nach Israel und Palästina am 22. und 23. April eingeladen. Hier werden uns unsere Gesprächspartner*innen nicht nur „statische“ Inputs, sondern anschauliche Einblicke in die Lebensrealitäten vor Ort geben und in direkten Austausch und Diskussion mit uns gehen und auch für Eure eigenen Ideen und Anregungen wird es Raum geben. Weitere Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier: https://alsharq-reise.de/de/tour/vir-palrael-04-2020

Euer Alsharq-Reise Team