Kurdistan grenzübergreifend: Politische und sozioökonomische Realitäten - Veranstaltungsbericht

Am 29.04. um 19:30 statteten wir im Rahmen unserer virtuellen Veranstaltungs-reihe in Kooperation mit unserem Partner Dis:Orient e.V. dieses Mal den kurdischen Gebieten in Iran, Irak, Syrien und der Türkei einen Besuch ab. Wie immer moderiert von unserem Mitbegründer und Reiseleiter Christoph Dinkelaker und ergänzt durch eindrucksvolles Bild- und Videomaterial gaben uns unsere Gesprächspartner über Liveschalten auch hier wieder sehr wertvolle Einblicke in die Lebensrealitäten, Entwicklungen und Herausforderungen, welche teils auch ohne coronabedingte Reiseeinschränkungen sonst nur schwer zu erlangen sind.

Nach einem kurzen einführenden Vortrag zu grundsätzlichen für den Regionalkontext relevanten Begrifflichkeiten, den Hauptsiedlungsgebieten sowie der sprachlichen und religiösen Vielfalt der Kurd*innen durch Christoph Dinkelaker begaben wir uns zuerst mit Schluwa Sama, einer studierten Politikwissenschaftlerin, welche auch zu diesem Thema promoviert, virtuell nach Irakisch-Kurdistan. Während die kurdischen Minderheiten in anderen Ländern teils gegen extreme Diskriminierung ankämpfen müssen, wie wir im Laufe des Abends von anderen Referent*innen erfuhren, sind die großen Herausforderungen in Irakisch-Kurdistan aktuell vor allem ökonomischer Natur. Denn nach Jahren der Unterdrückung und Verfolgung ist die Region bereits seit 1991 selbstverwaltet, was ebenso wie das Recht, ein eigenes Parlament zu wählen, seit 2003 auch in der irakischen Verfassung verankert ist. Auch die kulturelle Teilhabe der kurdischen Bevölkerung ist gewährleistet, ist Kurdisch doch mittlerweile als zweite Amtssprache akzeptiert und herrscht doch weitestgehende Meinungs- und Versammlungsfreiheit, was Raum für eine aktive Zivilgesellschaft lässt.

Die ökonomische Situation der Autonomieregion sowie des gesamten Iraks jedoch ist hingegen sehr instabil, wird der Staatshaushalt doch fast zu 100% aus Einnahmen des Ölverkaufes erwirtschaftet, wobei im gesamten Irak knapp die Hälfte und in Irakisch-Kurdistan ca. 40% der Bevölkerung im Staatsdienst tätig sind und damit ihr Einkommen direkt aus diesen Geldern beziehen. Diese Gelder werden von den korrupten Eliten sehr ungleich verteilt, was bereits seit 2011 regelmäßige Proteste im ganzen Land zur Folge hat. Der aktuelle Verfall des Ölpreises auf dem Weltmarkt verschlimmert diese Situation noch weiter. Eine lange Geschichte der Misswirtschaft und verfehlter internationaler Hilfsmaßnahmen hat zudem die eigene Landwirtschaft zu Grunde gerichtet und eine starke Abhängigkeit von hauptsächlich türkischen Lebensmittelimporten ausgelöst. Schluwa sieht hier vor allem in einer Stärkung kleinbäuerlicher Betriebe und einer daraus resultierenden Stärkung der eigenen Wirtschaft sowie einer Reduzierung der Weltmarktabhängigkeit eine Chance zur Lösung dieser Problematik. 

Im Gegensatz zu Irakisch-Kurdistan dominieren in Nordsyrien aktuell vor allem humanitäre Sorgen. Nachdem wir durch ein Video des Kurdischen Roten Halbmondes bereits einen ersten Eindruck über die Situation vor Ort gewinnen konnten, berichtete uns Anita Starosta von Medico International noch detaillierter von den lokalen Herausforderungen, die sie bei ihren Aufenthalten vor Ort teils selbst erfahren konnte. Zunächst gab sie jedoch einen kurzen Überblick über das Selbstverwaltungsprojekt in Nordsyrien. Die kurdischen Kräfte sind bereits schon seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 aktiv, bereits 2012 erfolgte erstmalig die Erklärung der Selbstverwaltung der Gebiete Afrin, Kobane und Cizre. Dieses als demokratisch, gleichberechtigt und multiethnisch vorgesehene Projekt wuchs mit mit der Zeit und wurde unter Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen und Minderheiten weiter vorangetrieben wurde und stellte so einen wesentlichen Stabilitätsfaktor dar.

Ein zentrales Problem hier liegt jedoch in der Tatsache, dass bis heute keine staatliche und/oder internationale Anerkennung vorliegt, was nicht nur den Ausschluss von vielen internationalen Verhandlungsformaten, sondern ebenfalls die Teilhabe an humanitärer Hilfe stark einschränkt. Besonders die wiederholten Angriffe der türkischen Streitkräfte bzw. bezahlter Söldner stellen die Menschen in der Region vor große Herausforderungen und lösen große Ängste aus. Nicht nur verschlechtert sich die aufgrund mangelnder internationaler humanitärer Hilfe bereits prekäre Lage der über 700000 Binnenvertriebenen in der Region auf diese Weise noch zusätzlich, durch die Übermacht der türkischen Invasion werden zudem Abkommen mit dem Assad-Regime und Russland nötig, welche die weitere Existenz der Selbstverwaltung als solcher bedrohen. 

Während die syrischen Kurd*innen trotz dieser schwierigen Situation so zumindest aktuell nichtsdestotrotz - wenngleich auch nur begrenzte - politische Freiräume nutzen können, stehen der kurdischen Minderheit im Iran unbeachtet von der westlichen Berichterstattung wohl die wenigsten Möglichkeiten zur kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Teilhabe offen, wie uns im Anschluss der geflohene Menschenrechtsaktivist Kaveh Kermanshahi berichtete. Obgleich die Kurd*innen im Iran knapp 10% der Bevölkerung ausmachen, werden sie ähnlich wie die meisten anderen ethnischen und religiösen Minderheiten im Land stark diskriminiert. Hinzu kommen eine hohe Arbeitslosigkeit und prekäre Verdienstmöglichkeiten, die selbst Kinder dazu treiben, sich teils unter Lebensgefahr als Lastenträger, so genannte „Kolbars“, zu verdingen. Mit dem Argument der Verhinderung von Separatismen etwa beharren die Eliten auf Persisch als einziger Amtssprache und lokale Medien in anderen Sprachen werden stark zensiert, andere Religionen als der schiitische Islam werden nicht anerkannt. Weiterhin sind etwa sunnitische Kurd*innen von Regierungsämtern ausgeschlossen und alle kurdischen Oppositionsparteien offiziell verboten. Autonomiebestrebungen wurden in der Vergangenheit brutal niedergeschlagen und Aktivisten sowie kritische Journalisten bis heute inhaftiert und – teils selbst im europäischen Exil –sogar hingerichtet bzw. ermordet. Während dies für alle Minderheiten gilt, sind Kurd*innen jedoch unverhältnismäßig häufig betroffen und machen ca. die Hälfte der politischen Gefangenen im Iran aus.

Solch politisch motivierte Festnahmen gehören auch für viele der AKP-Regierung kritisch gegenüberstehende und politisch aktive Kurd*innen in der Türkei in den letzten Jahren wieder vermehrt zum Alltag, wie der Kommunikationswissenschaftler und politische Aktivist Kerem Schamberger in seinem abschließenden Input aufzeigte. Die Gründe hierfür sieht er bereits in der Gründerzeit der Türkei und in den Konsequenzen des ideologischen Hintergrundes der Jungtürken mit ihrem Bestreben nach einem möglichst homogenen Staatsvolk, welches in den Folgejahren mit der Vertreibung und Ermordung verschiedener Minderheiten bzw. dem Zwang zur Assimilation zum Ausdruck kam. Bezugnehmend auf die aktuellen Entwicklungen, welche auf mehrere Friedensinitiativen wie zuletzt von 2012-2015 folgen, mit den immer neuen Eskalationen durch die AKP wie der Zerstörung einiger kurdischer Städte oder der Absetzung zahlreicher erst 2019 ins Amt gewählter HDP-Bürgermeister sind so laut Kerem einige Parallelen zwischen der Anfangszeit der Republik und heute zu erkennen. Die beste Chance für substantielle Verbesserungen wiederum sieht er hier in einem Ende der AKP-Regierung durch eine breite Koalition aus Kemalisten, Linken und Kurd*innen.

Wir danken all unseren Gesprächspartner*innen für ihre interessanten Beiträge und Perspektiven sowie unserem Partner Dis:Orient e.V. für die tatkräftige Unterstützung bei der Planung und Vorbereitung der Veranstaltung, aber selbstverständlich auch Euch für Euer reges Interesse und Eure Nachfragen sowie die Spenden für unsere Arbeit. 

Falls Ihr das Event verpasst haben solltet oder Euch einen der Inputs noch einmal ansehen möchtet, findet Ihr einen Mitschnitt dieser und aller weiteren vorangegangenen Veranstaltungen auch hier auf unserem Youtube-Kanal: https://www.youtube.com/watch?v=wGBOQT9WywY&list=PLUNmQHtYTPqPPw1OVJih7o... 

Unser nächstes Online-Event erwartet Euch am 20. Mai 2020 um 18.00 Uhr. Dieses Mal reisen wir per Liveschalte nach Afghanistan, wo wir uns mit hochkarätigen Gesprächspartnern vor allem mit lokalen Perspektiven auf den US-Taliban-Deal beschäftigen sowie Frauenrechtsbewegungen im Land kennenlernen werden. Außerdem sprechen wir über das Erstarken des Islamischen Staates in der Region. Detailliertere Infos zur Veranstaltung und die Möglichkeit zur Anmeldung findet Ihr hier: https://www.alsharq-reise.de/de/tour/afg-05-2020

Wenn ihr auch zukünftig über unsere Abendveranstaltungen sowie weitere (virtuelle) Events auf dem Laufenden gehalten werden wollt, folgt uns auch gerne auf Facebook, Instagram und Youtube und abonniert – falls noch nicht geschehen – unseren Newsletter. Wir freuen uns darauf, Euch bald wieder virtuell oder auch physisch bei einer unserer nächsten Reisen zu treffen.
 

Euer Alsharq-Reise Team